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Update!

 

ImageEinige ahnten es bereits: Früher war alles besser – zumindest, was diese Website angeht. Früher, als ich eine ganze Menge Zeit hatte, saß ich jeden Sonntag brav an meinem Schreibtisch und hämmerte einen neuen Text in den Computer. Da mir immer irgendetwas einfiel, war das kein Problem.

Inzwischen sind selbst die Sonntage verplant. Der Kalender an meiner Küchentür ist schneller mit Deadlines und sonstigen Terminen bedeckt, als ich ihn umdrehen kann. Viele Dinge blieben da auf der Strecke. Und selbst die Lieblingsprojekte, die in diversen Schubladen schlummern, kommen nicht so recht voran. Ist es mangelndes Zeitmanagement? Beginnende Senilität? Hier kann ich nur (wie so oft) die legendäre Dr. Erika Fuchs zitieren: »Man weiß so wenig!«

Auf der faulen Haut liege ich jedenfalls nicht. Gerade erschien im Reiffer Verlag ein opulenter Bildband, bei dem ich den Umschlag gestalten und ein paar Büldschen beisteuern durfte: »Vom Bambi Kino in den Buckingham Palast. Unveröffentlichtes, Raritäten und Storys aus der frühen Beatles-Ära«. Für mich als Bewunderer der Fab Four eine echte Herzensangelegenheit. Und auch von mir erscheint in wenigen Wochen ein neues Buch. Klar, dass mich sowas motiviert, diese Seite wieder zu Re-animieren. Also bitte:

Winnetou in der Stadt

 

ImageKaum kommen im Frühling die ersten Sonnenstrahlen, da wimmelt die Stadt von seltsamen Menschen. Seien es Straßenmusikanten, Spendensammler, religiöse Eiferer oder alles zusammen – sie alle wollen nur etwas Aufmerksamkeit, oder noch besser: etwas Bargeld.

Dabei haben uns doch bereits unsere Eltern schon als Kind eingetrichtert, dass wir mit fremden Menschen, die uns Süßigkeiten anbieten, weder reden noch zu ihnen ins Auto steigen sollen. Obwohl: Meinen Eltern war das eigentlich egal. Es war mein Zahnarzt, der mir riet, keine Süßigkeiten anzunehmen. Wie jedes größere Nest hat auch meine Stadt eine Fußgängerzone, in der praktisch an jeder Ecke um die Gunst der Passanten gebuhlt wird.

Für Versicherungsvertreter und vereinsamte Rentner ist so etwas prima, denn ständig kann man so neue Leute kennenlernen. Für introvertierte Sozialphobiker ist es jedoch die Hölle, obwohl man in einigen seltenen Fällen sogar etwas geschenkt bekommen kann. Meist jedoch handelt es sich hierbei um Flugblätter oder exotische Bazillen. Wer will schon zwei Wochen lang gratis eine Lokalzeitung lesen, in der hauptsächlich von Karnickelzüchtervereinen und Fußballmannschaften der Kreisliga die Rede ist? Einen Gratis-Milchaufschäumer (den man sogar behalten darf) gibt es zwar obendrein, doch der Weg zum Altpapiercontainer ist weit.

Falls man lieber weiterläuft, lauern an der nächsten Straßenecke schon drei mehrfarbig gefärbte Punker nebst Dobermann. Auch sie schauen erwartungsvoll, denn alle vier wollen eigentlich nur spielen. Zum Glück sind Kaufhauspunker wie kleine Kinder: Wenn man direkten Blickkontakt vermeidet, lassen sie einen in Ruhe. Umweltschützer dagegen sind aus einem härteren Holz geschnitzt. Die Welt zu retten ist schon dufte, da habe selbst ich keine Bedenken. Außerdem lächeln die jungen Umweltschützerinnen immer so freundlich. Das Dumme ist nur, dass sie extrem vergesslich sind. Schon auf dem Rückweg wird man erneut angesprochen, so oberflächlich sind sie. Für ein empfindliches männliches Ego ist das eine schwere Kränkung.

Ein weiterer Klassiker, besonders vor Einkaufspassagen, sind graumelierte bärtige Männer im Pullunder, die den Passanten unbedingt »eine frohe Botschaft von Gott« überreichen möchten. Ob Gott selbst die Rechtschreibfehler der Flugblättchen verbockt hat, oder einer seiner Fans, erfährt man leider nicht.

Meine absoluten Fußgängerzonen-Favoriten sind jedoch frankophile Akkordeonspieler, wie der, der ständig vor meiner Lieblingsbuchhandlung hockt und garantiert »Sou le ciel de Paris« zum Besten gibt, wenn man vorbeischlendert. Alternativ hat er Nino Rotas Love Theme aus »Der Pate« zu bieten. Da sein gesamtes Repertoire aus diesen zwei Melodien besteht, sind die Buchhändlerinnen inzwischen den Wahnsinn nahe.

Nicht, dass ich etwas gegen diese Menschen hätte. Sie alle wollen nur leben. Für Leute aus den umliegenden Ortschaften, die hier am Wochenende einkaufen, wirkt es vielleicht sogar exotisch. Diejenigen, die fast täglich in der Stadt unterwegs sind wie ich, haben gelernt sich auf Schleichwegen durch den Großstadtdschungel zu bewegen. Ganz wie Winnetou in der Prärie, wenn die Komantschen auf dem Kriegspfad waren. Sich darüber zu ärgern wäre zwecklos. Dazu sind die jungen Umweltschützerinnen viel zu nett. Außerdem retten sie ja nur die Welt. Wie kann ich, als heimlicher Nutznießer ihrer Bemühungen, dagegen sein? Auch der bärtige Herr im Pullunder möchte nur die Welt retten – und zwar indem er sie mit frischem Papiermüll versorgt. Vielleicht sollten sie mal miteinander reden.

Ich glaube unsere Eltern hatten recht: Fremde Leute, die einen ansprechen, verheißen nichts Gutes. Als Kinder wollten sie uns wenigstens Süßigkeiten schenken oder in ein komfortables Auto lotsen. Heute möchten sie nur noch unser Geld, was irgendwie schade ist. Obwohl man sich Sorgen machen sollte, wenn sie einen plötzlich in Ruhe lassen. Zum Beispiel, wenn junge Frauen Handzettel für ein neues Fitnessstudio verteilen und man dabei total ignoriert wird – obwohl man mit aller Kraft den Bauch einzieht.

Mitbewohner

 

ImageEine Freundin von mir hat seit neuestem einen Untermieter. Wenn ich nun zur Kaffeestunde mit ihr in ihrer Küche sitze, kann es durchaus passieren, dass ein bärtiger Mann im Bademantel herein schlurft. »Tach«, sagt er dann nur knapp, schnappt sich etwas aus dem Kühlschrank und verschwindet stehenden Fußes in sein Zimmer. Etwas befremdlich finde ich das schon. Meine Freundin hat jedoch WG-Erfahrung und meint, so etwas sei ganz normal.

Früher musste sie stundenlang vor dem WC warten, wenn sich ihre Mitbewohnerin mit einem Lover in der Badewanne vergnügte. Natürlich hätte sie sich auch zu ihnen ins Bad begeben dürfen, so weltoffen war man damals schon, doch irgendwie mochte sie nicht vor den Beiden die Hosen runterlassen.

Der große Knall kam, als sich ihre Mitbewohnerin ständig Sachen von ihr auslieh, ohne jedoch vorher zu fragen. Irgendwann entdeckte sie einen großen Brandfleck auf ihrer Lieb­­lingsjacke. Zur Rede gestellt, zeigte die Mitbewohnerin keinerlei Schuldbewusstsein. »Ist doch nur eine Jacke«, kommen­tierte sie lapidar. Danach durfte sie flugs ihre Koffer packen, denn der Mietvertrag lief zum Glück auf den Namen meiner Freundin.

Ich selbst hatte nie in einer WG gehaust. Als ich von zuhause wegzog, war ich froh, endlich mein eigenes Reich zu haben. Am Anfang war es jedoch sehr schwer, plötzlich allein zu leben. Dazu in einer anderen Stadt. Die ersten Tage waren furchtbar. Ich sehnte mich nach meinem ach so ruhigen Zimmer bei den Eltern, denn plötzlich wohnte ich mitten in einer großen Stadt, in der es lauter zuging, als in meinem verschlafenen Heimatort. Vor allem hatte ich nun Nachbarn, die alles, was ich tat, neugierig observierten.

Links von mir wohnte eine pensionierte Lehrerin, die einmal mit einem weißen Handschuh übers Treppengeländer strich, um zu demonstrieren, wie schlampig ich das Treppenhaus geschrubbt hatte. Auf der anderen Seite lebte eine alte Dame, bei der es immer ein wenig nach Urin roch, wenn sie die Tür öffnete. Über mir wohnte eine schwerhörige Rentnerin, die rund um die Uhr Volksmusik hörte – und zwar so laut, dass ich hätte mitschunkeln können. Wenige Wochen, nachdem ich einzog, verstarb sie auf dem Klo sitzend, wie Elvis Presley.

Der einzige Lichtblick im Haus war eine sehr attraktive Erzieherin im Erdgeschoss. Sie hatte die monumentalste Kehrseite, die ich je bei einer Frau gesehen hatte. Mit all ihren Macken und Marotten sorgten sie dafür, dass ich mich nicht zu einsam fühlte, in meiner neuen Behausung.

WGs erlebte ich nur als Gast. Ständig gab es dort große Diskussionen. Egal, ob es der Kühlschrank war, der nicht richtig gesäubert wurde, oder die defekte Glühbirne im Flur, die niemand auswechseln mochte. Ständig wurde genörgelt und gemeckert. Der größte Streitpunkt war immer das Bad, in dem ständig jemand vor, auf oder neben die Klobrille gepinkelt hatte. Auch verschimmelte Duschvorhänge schienen in einer WG eine große Rolle zu spielen.

Im Grunde war eine Wohngemeinschaft so etwas wie ein Ehe-Bootcamp, in dem man darauf geschult wurde, Kompromisse zu schließen und sich rund um die Uhr auseinanderzusetzen. Besonders für Frauen hatte so etwas durchaus Vorteile: Männer mit WG-Erfahrung schrauben jede Senftube zu und pinkeln garantiert im Sitzen. Allein deswegen, weil sie einfach keine Lust mehr haben, sich zu rechtfertigen.

Ein wenig bedaure ich schon, nie in einer WG gelebt zu haben, denn dort werden Freundschaften fürs Leben geschlossen. Fast wie bei der Bundeswehr. Da ich jedoch etliche Freunde hatte, die in Wohngemeinschaften lebten, bekam ich oft sehr viel mehr mit, als mir lieb war.

Besonders schlimm wird es, wenn sich ein männlicher Bewohner in eine Mitbewohnerin verliebt. Ein guter Freund von mir jammerte oft, dass eine attraktive Frau in seiner WG jeden Abend einen anderen Kerl mit nach Hause schleppte und er nebenan mitbekam, was sie alles mit ihm anstellte. Während die Lustschreie seiner Angebeteten durch die dünne Zimmerwand hallten, weinte er sich einsam in den Schlaf.

Wenn WG-Unerfahrene gezwungen sind, für kurze Zeit als Untermieter zu leben, kann dies ebenfalls zur Katastrophe führen. Vor einigen Jahren vermittelte ich einen Bekannten an eine alte Freundin. Er suchte ein Zimmer, sie brauchte Geld – eine gute Kombination, dachte ich. Anfangs sah es fast so aus, als ob zwischen den Beiden mehr entstehen würde, als nur ein Wohnverhältnis – bis er mitbekam, dass sie nachts in die Dusche pinkelte, statt ins Klo, das sich auf halber Treppe befand. Man sollte meinen, dass ein Mann, der ein Jahr als Entwicklungshelfer im tiefsten südamerikanischen Dschungel gelebt hatte, Schlimmeres gewohnt war. War er aber nicht. Als er bei ihr auszog, schüttete er zum Abschied einen Beutel Katzenstreu in die Duschwanne.

Beide sprachen nie wieder ein Wort mit mir.

Die innere Sicherheit

 

ImageWas hat meine Wohnungstür mit einem James Bond-Film gemeinsam? Auch meine Tür kann seit ein paar Wochen mit einem Spion aufwarten. Aus Gründen der Sicherheit wurden zudem alle Glasfenster der Tür mit Holzplatten überklebt. Die Gegensprechanlage war wohl nicht genug. Seitdem ist mein Dasein noch düsterer als ohnehin. Das ist ärgerlich. Die alte Tür atmete den Charme der Fünfzigerjahre. Nun sieht es in meinem Treppenhaus aus wie in jeder x-beliebigen Mietskaserne. Seltsamerweise finden einige Leute so etwas schön. Am liebsten hätten sie eine Metalltür, mit einer dicken Stahlschiene und zehn zusätzlichen Sicherheitsschlössern.

Nicht, dass es in meinem Mietshaus viel zu holen gäbe. Falls es in meiner Nachbarschaft Millionäre gibt, haben sie dies gut vor mir verborgen. Eine Verbrechenswelle ist ebenfalls nicht zu befürchten, denn Guatemala liegt weit entfernt. In den letzten Jahrzehnten hat die Kriminalität in meiner Stadt zudem stetig abgenommen. Gefährlich leben hier höchstens kleine Hunde, die befürchten müssen, von vereinsamten Rentnern zu Tode gestreichelt zu werden. Die Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist trotzdem so hoch wie nie. »Quartierssicherheit« ist daher ein beliebtes Thema. Doch was macht man, wenn alles im Quartier bereits sicher ist? Öde sogar. Antwort: Dann macht man sich auf der Suche nach Orten, die gefährlich sein könnten. Wenn ein Weg beispielsweise etwas abgelegen liegt, oder schlecht beleuchtet ist, bezeichnen wir dies im Fachjargon als »Angstort«, auch wenn dort noch nie etwas passiert ist. Dass dort etwas passieren könnte, reicht schon.

Ein unbeleuchteter Weg, in Friedhofsnähe, bei Nacht wäre für viele sicher die Königsklasse solcher Angstorte. Für mich persönlich wäre so ein Angstort ein x-beliebiger Platz im Publikum von Helene Fischer. Da an den meisten dieser Orte bislang keine Verbrechen stattgefunden haben, sind die Ängste völlig irrational. Statt den Menschen dies klarzumachen, gibt man lieber Geld aus, um ihnen ihre Furcht zu nehmen. Wege werden beleuchtet, Kameras installiert, Notrufsäulen aufgestellt, Türen mit Holzplatten verstärkt. »Vorbeugende Maßnahmen« nennt man das.

Woher rührt dieses übersteigerte Sicherheitsbedürfnis? Noch nie waren die Leute so besessen von der Kriminalität wie heute. Das Spiel mit der Angst hat es den Menschen angetan. Kriminalromane gehören zu den Bestsellern und auch im Fernsehen gibt es Krimiserien, wohin man blickt. Die imaginierten Morde können nicht blutrünstig genug sein. Ein popeliger Bankraub genügt nicht. Es muss mindestens ein Serienmord sein.

Mit an stoischem Fanatismus grenzenden Eifer wird am Sonntag bundesweit »Tatort« geschaut. An jedem anderen Wochentag gibt es eine enorme thematische Vielfalt, die von »Morden im Norden« bis »Nord Nord Mord« reicht. Von Fernweh Geplagte bevorzugen »Der Amsterdam-Krimi«, »Der Barcelona-Krimi«, »Der Athen-Krimi« und der »Kroatien-Krimi«. Bodenständige schauen dagegen den »Erzgebirgskrimi«, »Usedom-Krimis« oder »Der Bozen-Krimi«. Wer helfen möchte, die deutsche Kollektivschuld abzutragen, ist mit »Der Tel-Aviv-Krimi« bestens bedient.

Wen wundert‘s, dass so verunsichterte TV-Konsumenten überall nur noch Angstorte sehen? Wahrscheinlich wollen die Zuschauer solcher Krimis einfach nur sehen, wie die Übeltäter am Ende ins Kittchen wandern. Das gibt uns allen irgendwie ein Gefühl von Sicherheit; denn darum geht es doch im Prinzip. Nur dumm, dass es so etwas wie Sicherheit in unserem Leben nicht gibt.

Wer nicht von einem fallenden Klavier erschlagen wird, kann am nächsten Tag von einem Hirntumor dahingerafft werden. Das Leben ist und bleibt kein Ponyhof. Auch ein Fahrradhelm schützt uns nicht davor, von einer Dampfwalze platt gefahren zu werden. Selbst wenn man jeden Angstort mit Überwachungskameras ausgestattet hat, kommt garantiert das nächste Fukushima und die ganze schöne Sicherheit ist wieder zum Teufel. Furchtsame Gemüter, die ganz viel Sicherheit benötigen, sollten vielleicht besser nach China auswandern, denn im perfekten Überwachungsstaat sind Verbrechen fast unmöglich. Hier kann man im Bus seine Brieftasche vergessen, ohne Angst haben zu müssen, dass sie ein anderer einsteckt. Die Angst vor den Konsequenzen ist einfach zu groß.

Bis wir auch hier so weit sind, sollten wir es vielleicht wie Linus, von den Peanuts halten, der aus Gründen der inneren Sicherheit immer seine Schmusedecke (im Original: Security Blanket) im Gepäck hat. Kostengünstiger als eine Überwachungskamera ist diese allemal.

Weise Worte

 

ImageFernsehen bildet. In einer Dokumentation über Romy Schneider habe ich neulich folgendes gehört: »Steck Deine Kindheit in die Tasche und renne davon, denn das ist alles, was Du hast!« Diesen schönen Rat erhielt die tragische Schauspielerin ausgerechnet von ihrem Vater, Wolf Albach-Retty, nachdem sie ihre erste Rolle bekommen hatte. Allerdings ist diese Erkenntnis wohl nicht auf seinem eigenen Mist gewachsen. Mehrere Quellen geben Theaterlegende Max Reinhardt als Urheber dieser Zeilen an. Fest steht, dass von Reinhardt folgender, nicht unähnlicher Satz überliefert wurde: »Das Theater ist der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiterzuspielen.«

Bonmots wie diese haben mir schon immer gefallen. Den Ausschlag gab vielleicht Hans-Joachim Kulenkampffs Sendung »Nachtgedanken«, die vor über drei Jahrzehnten zu mitternächtlicher Stunde ausgestrahlt wurde. Mit einem dicken Wälzer in der Hand, auf dem er hinter ebenso dicken Brillengläsern herabschaute, erklärte Kulenkampff allen Nachtschwärmern und Schlafgestörten die Welt. Eine Rolle, in der er sich schon immer gut gefiel.

Fünf Jahre lang las er dem insomnen Fernsehvolk rund 5000 Lebensweisheiten von Goethe und Schiller bis Kästner und Ringelnatz vor, die kaum länger als drei Minuten dauerten (die Aufmerksamkeitsspanne war damals etwas länger). Natürlich war dies abgefilmtes Radio. Doch das Format gefiel mir, da man nebenbei andere Sachen machen konnte. Während ich in Nachtarbeit erste Illustrationsaufträge erledigte, war es die ideale Geräuschkulisse. Später erfuhr ich, dass es sich hierbei um »Aphorismen« handelte, die vor vielen Jahrzehnten hoch im Kurs standen. Besonders Schriftsteller liebten es, mit ein paar pointierten Worten einen komplexen Sachverhalt auf den Punkt zu bringen.

Der Spitzenreiter auf dem Gebiet war sicher Oscar Wilde, dessen literarische Hinterlassenschaft mindestens doppelt so voluminös gewesen wäre, wenn er sein Pulver nicht auf diversen Partys verschossen hätte. Zum Glück war immer jemanden da, der nüchtern genug blieb, um alles mitzuschreiben. Sprüche wie »Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen!« und besonders »Ich bin gerne der einzige, der redet – das erspart Zeit und verhindert Streitereien.« sind bis heute unerreicht und zum Leidwesen meiner Umgebung fast so etwas wie ein Lebensmotto geworden.

Verglichen mit Wilde waren die Erkenntnisse späterer Generationen eher ärmlich. »Ein mündlicher Vertrag ist nicht das Papier wert, auf dem er geschrieben ist«, von Filmproduzent Samuel Goldwyn war zumindest noch amüsant. Spätere Talkshow-Weisheiten, wie etwa »Der (bitte N-Wort eintragen) schnackselt halt gerne«, von Fürstin Gloria von Thurn und Taxis konnten dagegen nicht wirklich mithalten.

Heute findet man weise Worte eher im Alltag. »Wer morgens aufwacht und keine Rückenschmerzen hat, ist entweder unter vierzig oder tot«, bemerkte eines Tages eine meiner Verflossenen. Wahrscheinlich habe ich sie gerade wegen solcher Gedanken geliebt. Auch die Bäckereifachverkäuferin von nebenan ist eine Quelle nie enden wollender Weisheiten.

Das große Comeback der Aphorismen kam mit Twitter. Gerade die Begrenzung von 140 Zeichen je Tweet schien viele User zu inspirieren, eigenes krauses Gedankengut abzusondern. Einiges von dem, dass ich las, fand ich höchst amüsant. So amüsant, dass ich twitternden Freunden gern mit eigenen Ideen aushalf. Eine meiner kreativen Höchstleitungen war sicher »Ironie ist, wenn der Landwirtschaftsminister ein Bäuerchen macht.«

Zugegeben, es gibt tiefschürfendere Gedanken – und genau das ist die Misere. Was derzeit im Internet verbreitet wird, fand man vor vielen Jahren an den Wänden jeder gut besuchten Herrentoilette. Nur diese Einsicht und meine sprichwörtliche Bescheidenheit halten mich davon ab, einen eigenen Twitter-Account einzurichten. Material hätte ich genug. Vor allem seit ich mich auf dem absteigenden Ast befinde, werden meine Lebensweisheiten immer rührseliger – besonders, was die eigene, nicht allzu ferne Zukunft betrifft: »Das Leben ist wie ein Rockkonzert. Während einige gegen Ende hin bereits ihre Sachen packen und sich in Richtung Ausgang bewegen, warten andere noch auf eine Zugabe.« Ich hoffe, es wird nicht ganz so schlimm.

Sätze wie diese schreien gerade danach, auf die Menschheit losgelassen zu werden. Allerdings nicht via Twitter, sondern in Form chinesischer Glückskekse.

Wortmax goes print

 

ImageFast immer, wenn man auf der Buchmesse Autoren trifft, ist von einem Projekt die Rede, »für das sich sowieso kein Verlag interessiert«. Im Grunde ist das ein trauriger Moment. Denn viele dieser Projekte klingen hochinteressant, nur werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit nie umgesetzt. Durch stetig sinkende Verkaufszahlen verunsichert, setzen Verlage immer mehr auf Altbewährtes. Von der Experimentierfreude vergangener Jahrzehnte ist immer weniger zu spüren.

Dabei war es nie so einfach Bücher zu publizieren. Die nötige Software haben viele auf dem Rechner. Dazu gibt es unzählige Druckereien, die potentielle Autoren von Kleinstauflagen als Zielgruppe anvisieren. Die Hersteller von eBooks haben es sogar noch einfacher. Die sozialen Medien ersetzen dabei Vertreter und Presseabteilung. Das verlegerische Risiko liegt hier bei Null. Kein Wunder, dass »crossmediales Publizieren« in aller Munde ist.

Branchenkenner werden spätestens jetzt müde lächeln, denn erfahrene Schriftsteller scheuen dieses Risiko. Sie wissen, dass Herstellung, Werbung und Vertrieb eines Buches wesentlich einfacher ist, wenn man einen Verlag im Rücken hat, zumal wenn dieser mit gutem Ruf der Veröffentlichung ein Gütesiegel verleiht. Und doch gibt es Autoren, die diesen Schritt bereits gewagt haben; beispielsweise ihren Backkatalog im Selbstverlag herausbringen und auf ihrer Website bewerben. Schließlich ist jedes verlagsvergriffene Buch für den Schriftsteller totes Kapital.

Nach zwölf Jahren wortmax haben wir uns entschlossen selbst die Arena des crossmedialen Publizierens zu betreten. Viele in unserem Team haben auf dem Gebiet der Buchherstellung langjährige Erfahrung und bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Warum nicht dieses Wissen nutzen, um eigene Lieblingsprojekte umzusetzen, dachten wir uns.

Das erste Buch der edition wortmax ist ab sofort erhältlich. Es trägt den schönen Titel »Ist Götterspeise Blasphemie?« und enthält Texte von Karsten Weyershausen. Einige dieser Texte wurden bereits auf unserer Website veröffentlicht. Für die Buchversion wurden sie allerdings überarbeitet und ergänzt.

Wir sind gespannt, wie dieser Versuchsballon angenommen wird. Wir möchten in unserer neuen edition wortmax Bücher herausbringen, die uns besonders am Herzen liegen und mit der Geschichte unseres Blogs verbunden sind. Schauen wir mal, wie sich das Ganze entwickelt.